Qualitätsstandards Psychosoziale Prozessbegleitung

vorgelegt vom Bundesverband Psychosoziale Prozessbegleitung e.V.
(BPP e.V. Lefèvrestr. 23 12161 Berlin. www.bpp-bundesverband.de)
Stand: Januar 2015
Verletzte Zeuginnen und Zeugen im Strafverfahren haben das Recht auf eine qualifizierte und professionelle Begleitung vor, während und nach der Gerichtsverhandlung. Ausgehend von den Erfahrungen und Erlebnissen vieler Opfer von Straftaten, dass der gesamte Verlauf eines Prozesses – von der Entscheidung, Anzeige zu erstatten bis zum rechtskräftigen Urteil – für sie sehr belastend ist, folgt, dass eine besondere Begleitung in Form einer professionellen Psychosozialen Prozessbegleitung notwendig ist. Sie umfasst eine qualifizierte Betreuung, Informationsvermittlung und Unterstützung mit dem Ziel eine drohende Sekundärviktimisierung durch ein Strafverfahren zu vermeiden. Die vom BPP entwickelten Qualitätsstandards dienen dazu, verletzten Zeuginnen und Zeugen eine bundesweit einheitliche, qualitativ hochwertige und verbindliche Versorgung zu gewährleisten. Sie sind entwickelt worden, um einen klaren Rahmen für die Durchführung einer Psychosozialen Prozessbegleitung und für das Anforderungsprofil an professionell Tätige festzulegen sowie Erfordernisse an die notwendigen institutionellen Rahmenbedingungen zu benennen. Die Angebotsformen zur Psychosozialen Prozessbegleitung und deren qualitative Bewertung sollen dadurch für Verletzte, deren Bezugspersonen, die Strafverfolgungsbehörden, die Justiz und die Fachöffentlichkeit transparent und überprüfbar sein. Die Umsetzung der hier formulierten Standards ist an eine finanzielle Absicherung gebunden.

 

Der Vorstand BPP e.V.
1. Vorsitzende                                 2. Vorsitzende
Andrea Behrmann                           Dr. Iris Stahlke

1. Grundlagen für die Entwicklung der Qualitätsstandards für Psychosoziale Prozessbegleitung

Der Bundesverband Psychosoziale Prozessbegleitung e.V. (BPP) ist zur Zeit der einzige Berufsverband in Deutschland, in dem sich psychosoziale Fachkräfte für die Umsetzung und Weiterentwicklung von Qualitätsstandards Psychosozialer Prozessbegleitung vor dem Hintergrund einer eigenen umfassenden beruflichen Qualifizierung engagiert einsetzen.

Die Entstehung und Verschriftlichung der hier vorliegenden Qualitätsstandards Psychosozialer Prozessbegleitung beruht auf der Zusammenführung und Bündelung der Erfahrungen von mehr als 60 Prozessbegleiterinnen und -begleitern aus dem Bundesgebiet, von denen ca. die Hälfte Mitglied im BPP sind. Alle, die an diesen Standards mitgearbeitet haben, sind durch RWH – Institut für Opferschutz im Strafverfahren e.V. weitergebildet worden.

Die vorliegenden Standards sind das Ergebnis eines fünfjährigen Qualitätsentwicklungsprozesses, bestehend aus der Sammlung und der Diskussion von langjährigen Erfahrungen professioneller zertifizierter Psychosozialer Prozessbegleiter_innen, dem fachlichen Austausch mit Juristinnen und Juristen im Rahmen zahlreicher Expertinnenhearings sowie regelmäßiger bundesweiter Vernetzungstreffen des Bundesverbandes.

Einbezogen wurden des Weiteren wissenschaftliche Auswertungen des österreichischen Modells zur psychosozialen und juristischen Prozessbegleitung sowie die quantitative Umfrage von vorher ermittelten Anspruchsgruppen der Psychosozialen Prozessbegleitung.¹ Vor allem Letzteres gewährleistet, dass die unterschiedlichen Erwartungen und Ansprüche aller am Ermittlungs- und Strafverfahren Beteiligten berücksichtigt werden.

Nach unserem Dafürhalten müssen Qualitätsstandards an den Erfordernissen aller Anspruchsgruppen orientiert sein. Sie müssen eindeutig, aber gleichzeitig auch veränderbar im Sinne einer Weiterentwicklung formuliert sein. Insbesondere im Rahmen von strafprozessualen Neuerungen müssen Qualitätsstandards Psychosozialer Prozessbegleitung permanent überprüft und ggfs. modifiziert werden

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1 Kraudelt, Wiebke und Schulz, Malena; Bachelorarbeit: Qualitätsstandards Psychosozialer Prozessbegleitung – eine sozialpsychologische Untersuchung unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Perspektiven aller Anspruchsgruppen, Universität Bremen, August 2012 (unveröffentlicht)

2. Zielgruppen Psychosozialer Prozessbegleitung

Das Angebot der Psychosozialen Prozessbegleitung richtet sich an:

  •  Kinder, Jugendliche und Heranwachsende als (verletzte) Zeuginnen und Zeugen von Gewalt- und Sexualdelikten
  •  Frauen und Männer als (verletzte) Zeuginnen und Zeugen im Kontext von Beziehungstaten wie häusliche Gewalt und bei Sexualstraftaten
  •  Frauen und Männer als (verletzte) Zeuginnen und Zeugen von Menschenhandel

Bei allen genannten Gruppen sollen psychische Beeinträchtigungen, Lernschwierigkeiten, sprachliche, geistige oder körperliche Beeinträchtigungen, die den Zugang und eine aktive Beteiligung an einem Strafverfahren erschweren, Berücksichtigung finden.

Das Hilfsangebot der Psychosozialen Prozessbegleitung soll für alle verletzten Zeuginnen und Zeugen, die es in Anspruch nehmen wollen, kostenlos und im organisatorischen Ablauf unbürokratisch sein.

Polizei und Justiz, die im Rahmen einer Anzeige oder eines Ermittlungsverfahrens Kenntnis von einem Fall aus dem Bereich der o.g. Straftaten erhalten, sollen die Betroffenen möglichst rasch über die Möglichkeit der Psychosozialen Prozessbegleitung informieren.

Soweit sich die Klientinnen und Klienten nicht selbst melden oder durch Polizei resp. Justiz vermittelt werden, erfolgt die Vermittlung in der Regel durch Mitarbeiter_innen von Opferhilfeeinrichtungen bzw. Angehörige anderer Professionen.

Das Angebot der Psychosozialen Prozessbegleitung beginnt idealerweise vor der Anzeige und dauert bis zum rechtskräftigen Urteil. Ein Einstieg in die Psychosoziale Prozessbegleitung ist aber zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens möglich.

3. Grundsätze der Psychosozialen Prozessbegleitung

Die Psychosoziale Prozessbegleitung ist dem Interesse und der Unterstützung der verletzten Zeugin oder des verletzten Zeugen im Strafverfahren verpflichtet.

Zu den Grundsätzen gehören sowohl die Akzeptanz des Ermittlungs- und Strafverfahrens sowie der Unschuldsvermutung, als auch die Umsetzung der Prozessbegleitung mit suggestionsfreien Arbeitsmethoden.

Juristische Vorgangsweisen folgen anderen Richtlinien als Prozesse psychosozialer Arbeit. Prozessbegleitung ist am Schnittpunkt beider Bereiche angesiedelt und dient auch der Vermittlung. Das Verständnis und die Kooperation mit allen Verfahrensbeteiligten ist eine wichtige Aufgabe der Prozessbegleiterin oder des Prozessbegleiters.²

Psychosoziale Prozessbegleitung umfasst qualifizierte Betreuung und Begleitung der verletzten Zeuginnen und Zeugen im Strafverfahren vor, während und nach der Hauptverhandlung mit dem Ziel, Belastungen zu reduzieren, eine Sekundärtraumatisierung zu vermeiden und damit die Aussagetüchtigkeit zu unterstützen.

Psychosoziale Prozessbegleitung hat keine rechtliche und/oder rechtsvertretende Funktion und ersetzt auch keine ggf. erforderliche Beratung oder Therapie. Sie schließt Gespräche über den zur Verhandlung stehenden Sachverhalt mit der Zeugin/dem Zeugen aus.

Psychosoziale Prozessbegleitung soll verletzten Zeuginnen und Zeugen Sicherheit und Orientierung vermitteln, es ihnen ermöglichen, zu verstehen, was um sie herum geschieht und was von ihnen erwartet wird. Sie ist Informationsvermittlung, Unterstützung in der Alltagsbewältigung und Begleitung mit dem Ziel, die individuelle Belastung für die Zeugin oder den Zeugen zu reduzieren.

Psychosoziale Prozessbegleitung ist geprägt von einer transparenten Arbeitsweise und der interdisziplinären Kooperation mit allen am Strafverfahren beteiligten Berufsgruppen.

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2 Siehe Fastie, Friesa: Sozialpädagogische Prozessbegleitung für minderjährige verletzte Zeuginnen und Zeugen im Strafverfahren. In: Fastie, Friesa (Hrsg.), Opferschutz im Strafverfahren, Verlag Barbara Budrich, Opladen & Farmington Hills 2008

4. Anforderungsprofil und Qualifikation von Psychosozialen Prozessbegleiterinnen und –begleitern

Psychosoziale Prozessbegleiter_innen sollten primär eine sozialpädagogische, psychologische oder vergleichbare Qualifikation besitzen. Als Nachweis gilt der Abschluss eines einschlägigen Studiums oder eine wissenschaftlich anerkannte psychologische/pädagogische Ausbildung.

Erfahrungen und Kompetenzen in Beratungstätigkeit und Gesprächsführung, erworben durch Ausbildung und Erfahrung im psychosozialen Bereich, sind ebenfalls Voraussetzung. Für die unterschiedlichen Zielgruppen von Psychosozialer Prozessbegleitung müssen notwendige spezifische Beratungskompetenzen vorhanden sein.

Darüber hinaus müssen Prozessbegleiter_innen über ein hohes Maß an interdisziplinärem Wissen verfügen, um allen Anspruchsgruppen gerecht werden und in deren Sinne handeln zu können. Eine entsprechend anerkannte Zusatzqualifikation, die Kenntnisse über die Folgen von Gewalt für die Opfer ebenso einschließt wie das Wissen um strafprozessuale Rahmenbedingungen ist daher zwingend erforderlich.

Kernpunkte der Zusatzqualifikation sollten folgende Kenntnisse sein:

  •  Strafrecht und Strafverfahrensrecht sowie Ablauf von Strafgerichtsverfahren und Funktionen der Prozessbeteiligten
  • Belastungserleben von Verletzten im Strafverfahren, einschließlich besonderer Wirkfaktoren, die sich aus der Täter/Opfer-Dynamik bei häuslicher Gewalt und bei Sexualstraftaten ergeben
  • Rechtspolitische Entwicklung des Opferschutzes
  • Rechte und Pflichten von Zeuginnen und Zeugen sowie deren Bezugspersonen
  • Funktion und Inhalt der aussagepsychologischen Begutachtung von Opferzeugen im Strafverfahren
  • Auswirkungen von Traumatisierung und Sekundärtraumatisierung
  • Verfahren des Ausschlusses suggestiver Einflussnahme in der Kommunikation
  • Hohe Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit sowohl in Bezug auf die verletzten Zeuginnen und Zeugen als auch in Bezug auf alle am Verfahren beteiligten Personen
  • Wissen und Kontakte zum psychosozialen Versorgungsnetz des jeweiligen Arbeitsstandortes


5. Qualitätssicherung Psychosozialer Prozessbegleitung

Eine berufsbegleitende Weiterbildung zur Psychosozialen Prozessbegleitung für Verletzte im Strafverfahren richtet sich an (sozial-)pädagogische und psychologische Fachkräfte, die Berufserfahrung haben in der Arbeit mit Mädchen und Jungen, Frauen und Männern, die Opfer von Misshandlung, sexualisierter und häuslicher Gewalt geworden sind.

Voraussetzungen zur Teilnahme an der Weiterbildung

  • Hochschulabschluss in den Bereichen Soziale Arbeit, Pädagogik, Psychologie oder ähnliches
  • Mehrjährige Berufserfahrung im psychosozialen Bereich, Erfahrungen und Kompetenzen in Beratung und Gesprächsführung
  • Vorhandensein spezifischer Beratungskompetenzen für die unterschiedlichen Zielgruppen Psychosozialer Prozessbegleitung
  •  Bereitschaft zur kontinuierlichen Qualitätssicherung durch Supervision, kollegiale Fallbesprechung und Teilnahme an Fachtagungen
  • Hohe Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, Bereitschaft zu fachlicher und interdisziplinärer Vernetzung

6. Qualitätssicherung Psychosozialer Prozessbegleitung

Ein Instrument der Qualitätssicherung sind die jährlich vom Bundesverband organisierten Vernetzungstreffen für zertifizierte Psychosoziale Prozessbegleiter_innen aus den verschiedenen vom Bundesverband anerkannten Weiterbildungen (zu den Voraussetzungen siehe Punkt 5: Inhalte, Aufbau und Umfang von Weiterbildungen).

Im Rahmen von Qualitätssicherung ist darüber hinaus eine kontinuierliche Evaluation der Einhaltung der hier formulierten Qualitätsstandards notwendig. Dazu sollten zum Einen gemeinsam mit den Klientinnen und Klienten dialogisch in Form von Interviews oder auch Gruppendiskussionen in verschiedenen Beratungseinrichtungen das Modell der Psychosozialen Prozessbegleitung, wie es hier entworfen wurde, einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Ergebnisse aus Interviews oder anderen Befragungen sollten kontinuierlich in eine Überarbeitung der Qualitätsstandards münden und an die Anspruchsgruppen Psychosozialer Prozessbegleitung rückgemeldet werden.

Zum Anderen sollten in Kooperation mit den Verfahrensbeteiligten als interdisziplinäre Qualitätssicherung und -fortentwicklung regelmäßige Experten_ innentreffen in den Ländern stattfinden, um Strukturen und Abläufe an gesetzliche Veränderungen anzupassen und zu diskutieren. Dies ist Aufgabe der jeweiligen Ländergruppe des Bundesverbandes.

Es ist zu gewährleisten, dass im Vorfeld geeignete Instrumente des Qualitätsmanagements entwickelt und reflektiert sowie in einem fortlaufenden Qualitätssicherungsprozess professionell eingesetzt werden.

? bpp_Broschüre_Quali_Standards_2016